Bienenzüchtungskunde

 

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von Professor, Doktor
Ludwig Armbruster
Theodor Fisher Verlag 
1919

 

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das Meer der Erscheinungsformen (Phänotypen) und die 16 Chromosomen

An dieser Stelle, können wir nun der Frage nähertreten: Kann der Mendelismus die erdrückende Mannigfaltigkeit der Lebewesen, das Meer der Erscheinungsformen (Phänotypen) erklären?

Die Antwort hierauf wollen wir in der Form einer Gegenfrage, einer Rechenaufgabe (anschließend an ein Beispiel Baurs) aufgeben.  Diese Aufgabe kann zugleich als Übungsstoff zur Einübung der Tabelle S. 68 dienen.

Ein Mann besitzt 1. einen Rock, 2. eine Hose, 3. eine Weste, 4. einen Überzieher, 5. einen Hut und 6. einen Schlips je sowohl in dunkler als in heller Farbe und möchte jeden Tag anders auf der Straße erscheinen.  Wie viele Tage kann er es treiben ?  Man muß diese Überlegung machen, wenn man antworten will auf die Frage, wie viele verschiedene Arten von Keimzellen kann ein Lebewesen bilden, das in 6 Merkmalspaaren verbastardiert ist (1. in bezug auf den Rock Schwarz × Weiß, 2. in bezug auf Hose Schwarz × Weiß usw.).  Nach der Baurschen Bastardierungstabelle Spalte 3 lautet die Antwort: 26mal, also 64 Tage oder reichlich 2 Monate lang kann er aus seinem ärmlichen Kleiderschrank jeden Tag einen anderen Putz hervorholen.

Die Frau des Betreffenden besitze ganz ähnlich 1. eine Jacke, 2. einen Rock, 3. eine Bluse, 4. einen Mantel, 5. Einen Hut und 6. einen Schlips sowohl in Hell als in Dunkel.  Auch sie kann 64 Tage hindurch täglich anders erscheinen.

Nun zeigt sich aber das Ehepaar als solches auf der Straße und will sich jeden Tag in anderem Aufzug darbieten: Wie viele Tage kann das Ehepaar Staat machen?  Nach der Tabelle Spalte 4 (26)2 = 642 = 4096.  Das Ehepaar braucht also über 10 Jahre zu seinen Verwandlungskünsten.

So viele Möglichkeiten bieten die beiden bescheidenen Kleiderschränke, in denen je zwei Garnituren von nur 6 Stück hängen.  Die Kleiderschränke mit den Doppelgarnituren sind ohne Vergleich die ungereiften Keimzellen, und zwischen den gereiften Keimzellen sind 4096 verschiedene Befruchtungen möglich.  Von diesen 4096 Befruchtungen sind zwar nicht alle, wie beim Vergleich, verschiedene Genotypen (sondern nur 36, weil z. B. Rr gleichwertig ist mit rR), vor allem aber ergeben sie auch keine verschiedenen Phänotypen.

Da aber die verschiedenen Lebenslagen die erblich genau gleich veranlagten Lebewesen verschieden ausprägen, vermag schon eine verwirrende Mannigfaltigkeit bei einfachsten Voraussetzungen zu entstehen, und umgekehrt, wenn auch die Mannigfaltigkeit des Zuchtmaterials im ersten Augenblick erdrückend erscheinen mag, ist es trotzdem möglich, daß der Züchter nur ganz wenige Erbfaktoren zu finden braucht, um das ganze Chaos zu übersehen und zu beherrschen.  Also:

Der Mendelismus lehrt das Chaos der Erscheinungen verstehen und beherrschen.

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Überraschungen, die der Mendelismus brachte

Das Blut ist also nach all dem Vorausgegangenen auf keinen Fall Sitz der Erbanlagen.

Es ist auch ganz und gar unzulässig, die väterlichen und mütterlichen Erbanlagen mit Flüssigkeitsmengen zu vergleichen, die mischbar sind.  Was „mischbar“ ist an Erbanlagen, und was nicht mischbar ist, zeigt hinreichend deutlich ein Blick auf die Abb. 14.  Die Gesamterbanlage etwa in einem eben abgelegten Bienenei (das die Reifungsteilungen ja noch nicht durchgemacht hat) ist eher zu vergleichen mit einem Becher, in dem ein Satz von 16 verschieden großen weißen Bohnen und ein Satz von 16 verschieden großen schwarzen Bohnen liegt.  Die schwarzen Bohnen, denen wir, entsprechend ihrer Größe, die Nummern 1–16 einritzen wollen, stellen die Chromosomen dar, die vom Vater kamen, die 16 weißen Bohnen, die wir ebenfalls nach der Größe numerieren, die Chromosomen, die von der Mutter kamen.  Bei der Reduktionsteilung wird jeweils eine vollständige Serie 1–16 entnommen, jedoch ganz ohne Rücksicht auf die Farbe.  Genau dasselbe geschieht bei der Reifung des Spermas, sozusagen beim „männlichen“ Becher (Drohne S. u.!).

Bei der Befruchtung wird der reduzierte Inhalt des männlichen Bechers und der reduzierte Inhalt des weiblichen Bechers zusammengeschüttet.  Aber der Inhalt der einzelnen Bohnen wird i.a. nicht verändert (besondere Ausnahmen seien hier übergangen), er bleibt unvermischt, rein und säuberlich der gleiche.  Man redet in dieser Beziehung von der "Reinheit der Gameten" [Ein Ausdruck übrigens, der in dieser Form am besten wieder verschwände; die Gameten sind ja nicht rein, sondern höchstens die Chromosomen (ja sogar diese nicht immer, z. B. bei Drosophila), man müßte denn diesen Begriff „rein“ sehr speziell deuten.].  Es handelt sich bei der Gesamterbanlage demnach viel eher um ein Gemenge von festen Körpern als um eine Mischung von Flüssigkeitstropfen.  Zudem treten die festen Körper nicht wahllos zusammen, sondern es sind immer 2 × 16, und jede 16er Gruppe enthält jeweils sämtliche (Größen-) Nummern 1–16 (letztere auch die Drohne!).

Es ist klar, daß der reduzierte Inhalt des "männlichen" Bechers 16 Bohnen-Nummern umfassen muß, gleichgültig, ob die Zahl der Ahnen groß ist oder klein.  Entgegen der Annahme Heyls 1918, hat natürlich die Drohne, obwohl sie weniger Ahnen hat als die Königin, den ganzen Erbanlagensatz von 16 Nummern.

Von all den Gameten (Bechern), die gebildet (gefüllt) werden, haben nur in einem Falle sämtliche genau den gleichen Inhalt, dann nämlich, wenn das Lebewesen rassenrein ist: in sämtlichen 16 Eigenschaftsgruppen, die in den 16 Chromosomen verkörpert sind.  Wäre hingegen das Lebewesen in diesen sämtlichen 16 Eigenschaftsgruppen heterozygotisch, dann könnten ja 216, also ungefähr 65000 verschiedene Arten von Gameten (Becherinhalten) gebildet werden.  Dabei käme es doch sehr selten vor, daß eine Dosis Erbgut (Becherinhalt) gleich einer andern ist.  Warum ?  Weil wir es eben nicht mit Flüssigkeiten zu tun haben, die gemischt werden.

Über Verwandtschaft müssen wir uns demnach ganz andere Vorstellungen machen als die, welche bis jetzt landläufig waren.  Weil keine Vermischung der Eigenschaftsanlagen stattfindet, sondern höchstens eine Vermengung, entsprechend dem Durchschütteln der Bohnen im Würfelbecher, darum kann leicht wieder eine Entmengung stattfinden.  Sie findet statt bei der Reduktionsteilung.  Die Entmengung kann sehr verschieden ausfallen, ganz nach den Wahrscheinlichkeitsgesetzen.  Sie kann so gründlich sein, daß zwei Gameten ein und desselben Tieres (vorausgesetzt, daß es mehr oder weniger heterozygot ist) vollständig verschieden voneinander sind.  Und, was noch merkwürdiger ist, wenn durch Inzucht diese ganz verschiedenen Gameten zusammentreten, dann können, wiederum entsprechend den Wahrscheinlichkeitsgesetzen, zwei Individuen entstehen, „ Vollgeschwister “, Produkte engster Blutsverwandtschaftszucht — die ganz und gar verschieden sind, die sogar im günstigsten Falle (wenn die Eltern heterozygot hinsichtlich sämtlicher Eigenschaften waren) sozusagen überhaupt nichts miteinander gemeinsam haben innerhalb der Artgrenzen.

Daß die Inzuchtsnachkommenschaft eines Bastardes unter sich so sehr verschieden ist, das bildet ja den Inhalt eines wichtigen Mendelschen Gesetzes, des Spaltungsgesetzes.  An dem Beispiel sehen wir, daß beim Aufspalten immer wieder Typen zutage treten, die früher im Stammbaum vorkamen.  Wir erkennen daraus, daß in vielen Fällen ein Junge mit seinen Eltern, mit Bruder oder Schwester weit weniger verwandt sein kann als etwa mit seinem Ururgroßvater.  All dies im schärfsten Widerspruch mit den Züchteranschauungen von den Blutbruchteilen und zu den Anschauungen, wie sie Abb. 2 leicht hervorrufen mag.

Noch eine Frage könnte man hier aufwerfen.  Es war eben davon die Rede, daß ein durch Inzucht erhaltenes Produkt erblich vollständig übereinstimmen kann mit einem früheren Ahnen, der sich irgendwo in der Natur vorgefunden haben mag.  Ist tatsächlich das Zuchtprodukt dem Naturprodukt gegenüber vollständig gleichwertig ?  Ist es nicht deswegen weniger wert, weil an ihm ungünstige Inzuchtswirkungen zu befürchten sind ?  Diese Frage ist vom züchterischem Standpunkt aus sehr dringlich.

Die größte Überraschung, welche der Mendelismus brachte, ist die, daß ein Junge mit seinem Ururgroßvater viel näher "verwandt" sein (in der Erbanlage übereinstimmen) kann als mit seinem Vater oder Bruder.

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