Bienenzüchtungskunde

 

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von Professor, Doktor
Ludwig Armbruster
Theodor Fisher Verlag 
1919

 

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über Mutationen

Plötzlichauftretende Veränderungen am Genotypus, eines Lebewesens nennt man Mutationen.  Von vornherein ist natürlich denkbar, daß z.B.

1. bei einer Löwenmaulpflanze Rr (Rosa) der eine Faktor R irgendwie defekt wird, so daß die Pflanze nicht einmal mehr rosa erscheint, sondern farblos hell;

2. daß an einer Löwenmaulpflanze RR (Rot) der eine Faktor R irgendwie defekt wird, so daß nicht mehr zwei Rotfaktoren wirken, sondern nur noch einer, die Pflanze demgemäß rosa erscheinen muß (1 und 2 könnte man heterozygotische Mutationen nennen);

3. daß bei einer Löwenmaulpflanze RR zu gleicher Zeit beide Faktoren R und R defekt würden, ist zwar weniger wahrscheinlich, aber nicht gerade undenkbar.  Es könnte ja z.B. jenem Chromosomenpaar im Augenblick, wo es gepaart ist, irgendwas zugestoßen sein (Fall 3 kann man homozygotische Mutation nennen).
In den bisherigen Beispielen ging ein Genotypus verloren, es läßt sich aber noch ein vierter Fall von Mutation namhaft machen.

4. Noch größere Schwierigkeiten bereitet die Vorstellung, daß im Erbgut eines Lebewesens ein Faktor oder gar ein Faktorenpaar plötzlich neu entsteht, neu auftritt (1–3 kann man Verlustmutationen nennen), 4 hieße dann Gewinnmutation.

In Übereinstimmung mit diesen Überlegungen fand man den Fall 4 kaum je sicher in der Natur verwirklicht, den Fall 3 verhältnismäßig selten.

Die Fälle 1 und 2 (heterozygotische Verlustmutationen) sind sicher nachgewiesen, und zwar um so zahlreicher, je genauer die betreffenden Tiere und Pflanzen untersucht sind.  Nur bei solchen werden sie sich überhaupt nachweisen lassen; denn vieles sieht nach Mutation aus, was keineswegs eine Mutation sein muß, vielmehr ebensogut ein Herausmendeln sein kann, z.B. die violette Levkoje: denn diese Eigenschaft war unter den näheren Vorfahren nicht vorhanden, tauchte plötzlich auf und war von da an erblich (oder das einzige weißliche Weizenkorn des Beispiels auf S. 81).  Nur bei Lebewesen, von denen man die Erbfaktoren schon gut kennt — und dazu gehört die Biene noch nicht — darf man wagen von Mutationen zu reden.  Aber gerade bei diesen wurden sie festgestellt, und zwar gerade von den allertüchtigsten Forschern.  An ihrem Vorkommen ist also nicht zu zweifeln; es fragt sich nur, wie häufig sie zu erwarten sind.

Baur hat 1/5 Million Löwenmaulpflanzen näher untersucht und fand dabei den Fall der homozygotischen Mutationen, die naturgemäß am meisten auffallen, verwirklicht bei 10 Pflanzen (Häufigkeit also 0,05 Promille).

Der Fall 1 und 2 (heterozygotische Mutation) läßt sich viel schwerer als sicher nachweisen, obwohl er häufiger zu erwarten ist.  Aus 4000 untersuchten Inzuchtstammbäumen ließen sich acht Fälle von heterozygotischer Mutation nachweisen (Häufigkeit also 2 Promille).

Daß Häufigkeit der Mutationen (überhaupt) an verschiedenen Standorten und unter verschiedenen Witterungsverhältnissen wechseln kann, zeigt beifolgende Zusammenstellung über eingehende Untersuchungen am Kartoffelkäfer Leptinotarsa.  Die Gesamthäufigkeit dieser nicht näher unterschiedenen Mutationen ist 118 Stück auf 207891 Individuen, also etwas mehr als 0,5 Promille.

Abbildung 19-1
Abbildung 19-2
Abbildung 19-3
Abb. 19.  Mutationen von Leptinotarsa multitaeniata (1-5) und decemlineata (6-9).  2. melanothorax; 3. und 5. rubicunda; (4. normale Larve); 7. pallida; 8. defectopunctata; 9. tortuosa.  Nach Tower aus Kronacher.

Da es sich hier, wie bei der Biene, um ein Insekt handelt, seien einige der erhaltenen Mutationen abgebildet (Abb. 19) und Angaben gemacht über Entstehung und Anzahl künstlich erzeugter Mutationen desselben Kartoffelkäfers.

4 Pärchen von Leptinotarsa decemlineata (s. Abb. 19, Nr. 6) wurden vorübergehend, nämlich während dreier Eierlegeperioden, hoher Temperatur (35° C), starker Trockenheit (45 % relativer Feuchtigkeit) und sehr niedrigem Luftdruck (1/5 des normalen) ausgesetzt.  Von 96 Tieren, die aus diesen mißhandelten Eiern hervorgingen, gehörten 2 zur Mutation immaculothorax und 82 zur Mutation pallida (s. Abb. 19 Nr. 7).  Nur 14 blieben unmutiert.

Aus den Eiern, welche die gleichen Pärchen später wiederum unter normalen Bedingungen ablegten, entwickelten sich wieder ausschließlich Leptinotarsa decemlineata.

Daß hier etwas ganz anderes vorliegt als bei den Warmhausversuchen mit der roten chinesischen Primel, läßt sich leicht einsehen, denn

  1. entwickeln sich nicht alle Eier zu abgeänderten Formen,
  2. entstand nicht eine einzige abgeänderte Form, sondern deren zwei,
  3. war die abgeänderte Form pallida innerlich im Erbgut verändert.  Das zeigte die Nachkommenschaft.  Ein Kreuzungsversuch mit der Ausgangsrasse decemlineata gab die schönste Mendelaufspaltung nach dem Schneckenbeispiel,
  4. entstand die pallida-Form nicht nur unter der Hand des Experimentators, sondern wurde auch wiederholt in der freien Natur gefunden.  Vergleiche folgende Tabelle.

ICI TABLEAU

Aus diesem Insektenbeispiel geht hervor, und das verdient von den praktischen Züchtern wohl beherzigt zu werden: Ein und dieselbe Mutation, z.B. pallida, kann durch verschiedene Einflüsse hervorgerufen werden; und umgekehrt: genau die gleichen Einflüsse an ein und demselben Material können verschiedene Mutationen auslösen.  Damit ist die obige Züchteranweisung gerechtfertigt.  Sie sei darum am Schlusse dieses Kapitels als Merksatz wiederholt.

In der Tier- und Pflanzenzucht haben gewisse Erscheinungen, die sehr stark an Mutationen erinnern, eine praktische Rolle gespielt.  Sie sind neben dem am Eingang erwähnten Maulbeerbaum hübsche Beispiele dafür, wie der Züchter Eigenschaften, die ihm für seine besonderen Zwecke geeignet erscheinen, sich und seinen Zwecken erhalten soll.

Schon Aristoteles soll das Einhuferschwein gekannt haben.  Es ist im Laufe der Jahrhunderte öfters unter Zuchten aufgetreten.  Da man an ihm Unempfänglichkeit für Klauenseuche festgestellt zu haben glaubte, jedenfalls aber dasselbe schätzte, weil es im Zeitalter vor Einführung der Eisenbahn größere Strecken als besserer Wanderer leichter überwand, wurde es weitergezüchtet.

Der Farmer Seth Wright erhielt aus normaler Herde einen Schafbock mit dachshundartigem langen Rücken und krummen Beinen.  Weil seine Schafe ihm bis dahin leicht die Hürden übersprungen hatten, wollte er diese unbeholfenere Form weiterzüchten, und es gelang ihm.  Dies war die Entstehungsgeschichte der Anconschafe.

Im Jahre 1590 entstand unter einem Schöllkraut- (Chelidonium majus) Bestand im Garten des Heidelberger Apothekers SPRENGER eine Form mit tief fiederteiligen Blättern: Chelidonium laciniatum, und seither ist die Pflanze samenbeständig und allmählich sehr weit verbreitet.  Diese Beispiele mögen genügen (vgl. z.B. Goldschmidt 1913).

Mutationen sind also plötzlich auftretende, aber dauernd bestehende (erbliche) Veränderungen am Bestand der Erbfaktoren.  Man kann sie künstlich hervorrufen durch äußere Einwirkungen.  Alle weiteren Einzelheiten über das Wie oder Wann sind unbekannt.  Durch Mutationen können neue Rassen, ja neue Arten entstehen, wenigstens dann, wenn die Hand des Züchters die Natur unterstützt.

Die Frage, ob sie bei den Bienen bis jetzt schon aufgetreten oder häufig zu erwarten sind, sei weiter unten angeschnitten.

Der Züchter, der auf ein bestimmtes Zuchtziel hinarbeitet, darf mit dem Auftreten bestimmter Mutationen nicht ohne weiteres rechnen.  Tritt sie auf, dann erst soll er sich um sie kümmern, sie prüfen bzw. prüfen lassen.  Treue Pflege des Zuchtmaterials sei selbstverständlich!

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gibt es allmählich entstehende Mutationen?

Die Antwort auf diese Frage ist zugleich die Antwort auf eine andere, die man öfters stellen hörte und noch hört.  Gibt es eine Vererbung erworbener Eigenschaften ?  Nach dem vorigen Kapitel ist bis jetzt bewiesen, daß die äußeren Eindrücke (die Umwelt, die Lebenslage) nicht nur Einfluß haben auf die Ausprägung der äußeren Eigenschaften, für die ja ein gewisser Spielraum vererbt wird durch die Erbfaktoren, also nicht nur auf den Phänotypus (vergl. das Beispiel der rot blühenden chinesischen Primel, und das Beispiel von der weiblichen Anlage im Bienenei, die durch die Nahrung zum Königinnnen- oder zum Arbeiterinnenbild ausgeprägt wird), sondern daß die Lebenslage tatsächlich auch auf die Erbanlagen selbst, also den Genotypus selbst, einwirken kann.  Es erstreckt sich dieser Einfluß auf einzelne Erbfaktoren, seltener auf Erbfaktorenpaare.  Die Einwirkung entzieht sich ganz unserer näheren Kontrolle und erscheint nach allem, was wir bis jetzt wissen, als eine plötzlich wirkende.  Es hat auch ganz den Anschein, als ob nur in bestimmten, enger begrenzten Entwicklungsstadien eines Lebewesens solch eine Einwirkung möglich ist.  Es ist einleuchtend, daß die Außeneinflüsse die Erbanlagen in den Chromosomen leichter erreichen, z.B. bei der Biene, wenn die Eier abgelegt sind, als wenn sie noch tief im Eierstock der Mutter stecken (vgl. die Versuche beim Kartoffelkäfer).  Man spricht daher auch von einer empfindlichen Periode, in der die Mißhandlung eines Lebewesens besonderen Erfolg hat.

Hat die Einwirkung Erfolg gehabt, dann liegt eine Mutation vor, wenn nicht, dann bleibt es beim alten Genotypus.  Gibt es außer diesem Entweder-Oder noch etwas Drittes ?

Denkbar wäre es schließlich, daß das, was wir bis jetzt die Mutationen nennen, von der veränderten Umwelt nicht auf den ersten Hieb erzeugt würde, daß der angegriffene Erbfaktor zwar noch funktioniert, aber immerhin schon so weit geschwächt ist, daß, wenn etwa bei der nächsten Generation der betreffende geschwächte Faktor wiederum den Angriffen der Außenwelt ausgesetzt ist, er nun nicht mehr widersteht, und die schrittweise vorbereitete Mutation doch einmal auftritt.  Es würde dann eine allmählich entstandene Mutation vorliegen, und die Außenwelt würde nur scheinbar plötzlich, tatsächlich aber allmählich an der Umgestaltung des Artbildes arbeiten.  Falls solche Dinge vorkommen, würden Eigenschaften allmählich erworben, und diese erworbenen Eigenschaften würden sich vererben.  Es fragt sich nur, ob diese Dinge vorkommen.

Hier ist nicht der Platz, darüber weitere Erörterungen anzustellen.  Es handelt sich nämlich um eine Streitfrage, in der die allertüchtigster Forscher nicht einig geworden sind.  Es genügt, festzustellen, daß die Mehrzahl der Forscher die Erblichkeit erworbener Eigenschaften in Abrede stellen.  Bis auf den heutigen Tag wurden tatsächlich trotz eifrigster Suche nach Beweisen für die Erblichkeit erworbener Eigenschaften nicht allzuviele Tatsachen vorgebracht, und dieses Beweismaterial hält der kühlen, fachmännischen Kritik nicht in allem stand.

Die züchterische Praxis hat sich danach zu richten; sie darf daher, wenigstens bis auf weiteres, nicht mit rosiger Zuversicht Maßnahmen treffen, als ob es eine Vererbung erworbener Eigenschaften gäbe.

Kurz:

Über die Mutationen (= gewisse Veränderungen am Genotypus) wissen wir wenig, über die züchterisch-praktische Herbeiführung der Erscheinungen soviel wie nichts, und über allmählich auftretende Mutationen können wir überhaupt nur Vermutungen anstellen.

Darum bleibe es bei der schon erwähnten Züchtungsregel.

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